<p>Fremdkörper: die Frage, was in einen musikalisch konsistenten Zusammenhang gehört und was nicht, führt direkt zum Kern ästhetischer Entscheidungen. Denn Konsistenz (um das Wort Stil zu vermeiden) ist immer. Der Rezipient wird immer, auch wo kunstvoll Disparates organisiert ist, Zusammenhang unterstellen.</p><p>Die Fremdheit ist keine Frage des Materials, sondern des Kontextes. Ein Klavier klingt in einem mikrointervallischen Umfeld falsch. Bevor ich mir einen Fremdkörper ausdenke, muss ich also den Eigenkörper definieren. In einem Stück für Klavier und Pappkarton ist der Karton kein Fremdkörper, sondern Bestandteil der Systematik des Stückes. Erst wenn ein Stück sein Eigenes zeigt – also nicht nur plant, sondern auch wahrnehmbar macht – kann man Elemente als von außerhalb kommend erkennen. Das Durchbrechen der Konsistenzmauer bleibt aber schwierig.</p><p>Meine kompositorische Arbeit ist seit Jahren gekennzeichnet durch die Arbeit an Syste-matiken. Das heißt, dass ich Materialkonstellationen oder Kompositionstechniken (auch anderes wäre als Systematik denkbar), nicht nur anwende, um ein Stück zu erzeugen. Mich interessieren die Prozesse, denen diese Systematiken selbst unterworfen sind, etwa Ent-stehung, Stabilisierung oder Verflüssigung. Bestandteil vieler meiner Stücke sind Prozesse, in denen Regeln durch Anwendung auf sich selbst zu ihrer eigenen Auflösung führen.</p><p>Scherben ist formal mein bislang rigidestes Stück. Es hat einen starren Formplan, der bis zum Schluß streng befolgt wird. Insgesamt 121 Formteile bei einer durchschnittlichen Länge von fünfeinhalb Sekunden folgen ohne Unterbrechung aufeinander, und zwar in der Reihenfolge:</p><p> 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 1.10 1.11<br /> 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11<br /> 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10 3.11<br /> 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11<br /> 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10 5.11<br /> 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10 6.11<br /> 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8 7.9 7.10 7.11<br /> 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9 8.10 8.11<br /> 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 9.8 9.9 9.10 9.11<br />10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7 10.8 10.9 10.10 10.11<br />11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6 11.7 11.8 11.9 11.10 11.11</p><p>Dabei sind Formteile mit gleichen Nummerierungen (1.2 und 2.1 usw.) mehr oder weniger identisch. Durch diese Technik wird nahezu jeder Formteil im Laufe des Stückes wiederholt, jedoch in völlig anderen Reihenfolgen und Kontexten. Durch die Kürze der Formteile und ihre große Unterschiedlichkeit entsteht so eine bunte Musik, die ihre Widersprüchlichkeit aus dem Wechsel von entwickelnden Formteilen und dem häufigen Abbrechen, Kontrastieren und Wiederholen bezieht. Die Idee, dass Stellen kontextabhängig verschiedene Wirkung und Funktion haben, wird nur sinnfällig, wenn ich sie auch wiedererkenne. Dadurch dass die Formteile zum Schluss auf Sekundenlänge zusammenfallen, wird dieses Wiedererkennen aber immer schwieriger. Je nach Blickwinkel zerfällt das Stück, oder hat am Schluss seine höchste Konsistenz erreicht. Der Grundidee, dass vieles nur bruchstückhaft ausgeführt ist, verdankt das Werk den Titel.</p><p><em>Enno Poppe</em><br /></p>