<p>Im Verlauf der letzten Jahre wurde mir ein ästhetischer Begriff immer suspekter: Konsequenz. Allzu leicht tummelt sich unterm Deckmantel des Kompromisslosen die heile Welt kompositorischen Heimwerkens, stellt sich der Mut zum Radikalen als Angst vor dem Unvorhergesehenen heraus. Beim Arbeiten mit musikalischen Systemen ging ich zunächst ganz identifikatorisch zu Werk: ein Abweichen vom Plan erschien mir als Mogeln, die Regeln sollten selbstzweckhaft befolgt werden; Kompositionen verkamen dadurch zu Tonsatz-aufgaben. Konsequenz bedeutete also, am selbstgesetzten Ort zu verharren.</p><p>Dabei erweist sich die Leistungsfähigkeit von kompositorischen Systemen erst in Situationen der Belastung. Die Tonalität ist z.B. als System bis über ihre Ränder hinaus ausgedehnt worden, die Sonatenhauptsatzform hat sich als geradezu unverwüstlich herausgestellt. Der Reiz an der Entwicklung musikalischer Systeme liegt für mich gerade nicht im vorbereitenden Kalkül, sondern in der Beobachtung von Situationen, denen das Vorgeformte ausgesetzt wird. Strukturen werden zugleich exponiert, strapaziert, aufgelöst, stabilisiert, verschoben, entwickelt: so sind sie Bestandteil des Komponierens, nicht hermetischer Hintergrund.</p><p>In den <em>Gelöschten Liedern</em> gibt es beispielsweise über weite Strecken zwei sich durchkreuzende Materialebenen: einerseits eine recht stabile Harmonik als Tonvorrat, andererseits virtuose Spielfiguren. Je virtuoser die Figuren werden, um so mehr verliert die Harmonik an Bedeutung, weil genaue Intonation und präzises Spiel unmöglich werden. Die Grenze, an der das harmonische System in einen gleichsam unkontrolliert schrillen oder falschen Klang umschlägt, wird dabei immer wieder hergeleitet und passiert. </p><p>Das Wechselspiel von Stabilisierung, Störung und Auflösung beherrscht das Stück über weite Strecken. Im Intermezzo, der Mitte des Stücks, wird ein eintaktiges Pattern aufgebaut, mit immer mehr Zusätzen beladen, bis es sich in etwas anderes verwandelt, das als chaotisches Durcheinander (Gegensatz zum rhythmisch stabilen Pattern), genauso gut aber als Reprise des Anfangsteils gehört werden kann. Eine Es-Klarinetten-Melodie (einem aserbaidschanischen Modell nachempfunden) wird wenig später ebenfalls wiederholt und übersteigert, und verschwindet letztlich.</p><p>Diese Prozesse finden auch im formalen Bereich statt. Zunächst wird ein zweiteiliger Themenkomplex als ganzer wiederholt und variiert, er exponiert also eine zyklische Formanlage. Die Detailstruktur ist mit Hilfe der sogenannten L-Systeme, Modellen zur Beschreibung von Pflanzenwachstum, organisiert und hat dadurch prozesshaft-entwickelnden Charakter. Die baumartige Struktur der L-Systeme löst den Wiederholungscharakter des Beginns durch zahllose Verästelungen zunächst auf; im weiteren Verlauf bleiben aber immer Reste des Anfangs wie große Wucherungen erkennbar. Bis zum Schluss bleibt die Dialektik von Entwicklung und Wiederholung, Prozess und Zyklus formbestimmend. Das Lied als Metapher für eine zyklische Gestalt erfährt immer wieder seine Auflösung und Auslöschung. Die für das Klangforum Wien geschriebene Neufassung des Werks von 1997 geht noch einen Schritt weiter, indem das alte Stück als ganzes nochmals variiert wird.</p><p>Das Stück verdankt wesentliche Anregungen den Romanen <em>Paradiso</em> von José Lezama Lima, wegen seines zerstörerischen Detail-Wildwuchses, und <em>Jacques le fataliste et son maître </em>von Denis Diderot, wegen der bei aller formalen Verschachtelung beibehaltenen Klarheit.</p><p><em>Enno Poppe.</em><br /></p>