<p>Franz Schuberts <em>Sonate in C-Dur D840</em> geht an die Grenzen des Möglichen und überschreitet sie. Das Beobachten, das Wahrnehmen dieser Grenzen war für mich eine aufregende Erfahrung, deren Auswirkungen ich gerne auch andere Menschen vermitteln wollte – nicht als rationale Erkenntnis, sondern als sinnlich-expressives Erleben.</p><p>Denn diese Grenzen können von uns heute kaum mehr unmittelbar durch bloßes Hören erkannt werden. Ihre Verdeutlichung bedarf zunächst der Analyse und dann der musikalischen Interpretation des Erkannten.</p><p>Der <strong>3. Satz</strong> (er ist wie der 4. Satz unvollendet) ist in tonale Hinsicht äußerst ungewöhnlich angelegt: Der erste (erweiterte) Achttakter wird variiert wiederholt – aber die Wiederholung dieser As-Dur Periode erfolgt einen Halbton höher, in A-Dur. </p><p>Dieser Ungeheuerlichkeit gegenüber sind unsere heutigen Ohren stumpf geworden. Ein musikalisches Material einen Halbton höher zu wiederholen ist – heute! – ein billiger Trick der Unterhaltungsmusik. 1825 ist es eine Revolution, die die tonale Welt aus den Angeln hebt.</p><p>Aber diese Revolution scheitert. Wenn Schubert wieder zu diesem Thema zurückkehrt, geht es nicht mehr weiter. Die Musik bricht ab.</p><p>Der letzte von Schubert in diesem 3. Satz geschriebene Ton ist ein fis. Als uneingelöstes Versprechen hatte Schubert ein Wiederholungszeichen gesetzt und den Anfang der zu wiederholenden Stelle dadurch markiert. Erstaunlicherweise beginnt diese Stelle in Ges-Dur (deren harmonischen Umdeutung von fis) – hier existiert eine von Schubert geschaffene Brücke.</p><p>Vor dem Abbruch des Satzes ist ein „accelerando“ komponiert – eine Tempoanweisung, die in Schuberts Werk äußerst selten auftritt. Ich kenne nur eine zweite Stelle, wo sie anzutreffen ist: am Ende des „Erlkönig“, vor dem Tod des Knaben.</p><p>Hier aber steht das accelerando vor dem Tod des Satzes. Das euphorische Vorwärtsdrängen führ zum vorzeitigen Abbruch. Ins Nichts.</p><p>Dank Otto Brusatti und der Musiksammlung der Stadt Wien durfte ich das Manuskript dieses Satzes in den Händen halten. Nach dem vorzeitigen Abbruch des Satzes hatte Schubert zunächst noch 4 Notenzeilen frei gelassen. Später dann hatte er mit anderer Tinte in diese Zeilen ein Trio geschrieben – quasi post mortem. Eine leise Musik, verhalten im Pianissimo komponiert, Sforzatissimo-Akkorde schneiden wie Peitschenhiebe hinein.</p><p>Diesem Trio habe ich im <em>„Torso“</em> ein Motto hinzugefügt: Cum mortuis in lingua mortua“, ein Zitat aus Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“. Dieses Zitat wird auch unmittelbar klanglich wirksam: als Tremolo-Orgelpunkt in der höchsten Lage der Streicher (plus Crotales). Damit ist auch das Ideal benannt, das mir in diesem „<em>Torso</em>“ vorgeschwebt ist: das wohl unerreichbare Vorbild Ravel – Mussorgsky, wobei mir selbstverständlich bewusst ist, dass der Abstand zwischen Mussorgsky und Ravel wesentlich geringer ist, als der zwischen Schubert und Haas.</p><p>Als Töne des Orgelpunktes konnte ich dis’’’’ - fis’’’ - dis’’’ - fis’’’ setzen, eine extreme Verlangsamung des Hauptthemas des ersten Satzes. Dieses Anfangsthema von Schuberts Sonate ist also im harmonischen Verlauf dieses (von Schubert nachkomponierten) Trios enthalten.</p><p>Das Hauptthema des <strong>ersten Satzes</strong> ist karg: e“ – g’ – e’ – g’ – a’ – g’ ohne harmonische Unterstützung in Oktavverdopplungen. Daran anschließend erklingt eine Akkordfolge, deren Oberstimme nicht mehr bringt als die Wiederholung der Sekundschritte g’ – a’ – g’.</p><p>Diese Reduktion der Mittel birgt aber eine Fülle von Intervallbeziehungen (z.B. kann der Sextsprung e – g als Fugato in Engführung gesetzt werden oder der Sekundschritt g – a zum „Thema“ werden, das sich in g – as verwandelt; – vgl. die tonale Anlage des Anfangs des 3. Satzes). Im „<em>Torso</em>“ sind diese Intervallstrukturen durch die Instrumentalfarbe nachgezeichnet (auch angeregt durch Dieter Schnebels „Schubert-Fantasie“), indem bestimmte Tonfolgen jeweils mit bestimmten Instrumentalfarben gekoppelt werden (z.B. a’-g’ mit dem Fagott in hoher Lage). Es entstehen Linien, die ständig die Farbe wechseln.</p><p>Im ersten Ton des Themas ist eine intensive Kraft verborgen. Der Sextsprung abwärts bewirkt eine die Musik Anton Weberns vorwegnehmende Expressivität des Intervalls. Mein Instrumentationsmittel war das des Wählens extremer Register: isolierte Töne am Rande des Tonumfangs der Instrumente, anfangs die Bassklarinette, später das Fagott, im 2. Satz dann das Horn.</p><p>Auf dem As bildet Schubert einen Dominantseptakkord, den er dann in den übermäßigen Quintsextakkord as – c – es – fis umdeutet. Dass diese Akkordfolge, die traditionellerweise erst am Höhepunkt der Durchführung eingesetzt wird, hier schon zu Beginn der Exposition aufscheint, ist bei Schubert nicht ungewöhnlich. Erstaunlich ist aber, dass Schubert diesen Akkord dehnt, ihn als auf As gebildeten Klang über 11 Takte lang festhält. Der Dominantseptakkord wird quasi in Zeitlupe betrachtet. In der Notation verzichtet Schubert sogar auf die enharmonische Umdeutung. Es ist ein ges, das zum g führt, nicht ein fis. Der Klang bleibt ein Dominantseptakkord.</p><p>Dem Schriftbild des Manuskripts ist anzusehen, dass Schubert die Noten in einem Zug hingeschrieben hat. Das Notenbild atmet geradezu Hölderlins Worte „in stiller, ewiger Klarheit.“ In Takt 16 des ersten Satzes aber zögerte Schubert. Es gibt Streichungen, Korrekturen – und dann, als Folge dieses Verweilens den ausgedehnten Dominantseptakkord.</p><p>Dieses „Verweilen auf der Dominante“ bewirkt hier nicht ein dynamisches Vorwärtsdrängen, wie es am Ende einer Durchführung der Fall wäre, sondern ein statisches Verharren. Das Crescendo führt wieder zum Pianissimo (ohne Akkordwechsel), und wenn zuletzt dann innerhalb dreier Viertel ein Crescendo zum Quartsextakkord im Forte führt, wirkt es, als würde man ruckartig von einer Welt in eine andere versetzt.</p><p>Der so lange ausgehaltene Dominantseptakkord verliert seinen Dissonanzcharakter, er wird (so meine ich) zur Konsonanz, zum Obertonakkord. </p><p>Im <em>„Torso“</em> habe ich diesen Obertonakkord in den Streichern hinzugefügt, ihn aus dem Hintergrund ein wenig in den Vordergrund geschoben. Die einzelnen Teiltöne verhalten sich analog den Partialtönen eines Instrumentalklanges: Sie ändern die Dynamik, schwellen an und verschwinden – selbstverständlich ohne sich an das Metrum des Stückes zu halten (die Teiltöne eines lang ausgehaltenen Klaviertones halten sich ja auch nicht an das Metrum des Stückes, das gerade gespielt wird.) Aus Gründen der musikalischen Logik hab ich dieses dynamische „Aufblühen“ einzelner Teiltöne schon früher in die Partitur eingefügt (z.B. im Akkordeon in den Takten 13 und 14).</p><p>Im Mittelpunkt der Durchführung des ersten Satzes steht ein ausgedehntes Verharren auf dem Dominantseptakkord von Fis. Auch hier bin ich der Meinung, dass die lange Dauer des Akkordes die Dissonanz zur Konsonanz macht. Schubert verzichtet darauf, die Dissonanzspannung zu steigern und dann endlich der lang ersehnten Auflösung zuzuführen. Im Gegenteil: Der Akkord wird abgebaut, bis zum Einzelton reduziert, bis zum sanften Verklingen der Dominante.</p><p>In der Mitte, in den Takten 132 bis 137 des ersten Satzes von Schuberts Klaviersonate kommt es zu harmonischen Rückungen. Unvermittelt nacheinander erklingen die Dominantseptakkorde auf Fis, A, C, Es und wieder Fis, Schubert nimmt hier das Prinzip von Bela Bartóks Achsenharmonik vorweg. In motivischer Hinsicht finden sich Abspaltungen des Anfangsthemas, die aber auch als Teile von Fugati angesehen werden können, Themeneinsätze, die nur angedeutet, nicht aber fortgesetzt sind.</p><p>Im „<em>Torso</em>“ sind diese Dominantseptakkorde als pulsierende Klangwolken gestaltet – z.T. im höchsten Register – und die Themenbruchstücke vervollständigt. Ab Takt 137 räumt Schubert dem Dominantseptakkord so viel Platz ein, dass es möglich wird, im Orchester die Intonation der Obertonreihe vorzusehen, was an dieser Stelle auch Konsequenzen für die Melodik hat: Die zu kleine große Terz fis-ais erhält noch enge, quasi leittönig intonierte Halbtonschritte als Vorhalt (g – h), so dass das h beinahe um einen Viertelton sinkt – was dann, beim Eintritt der Tonika H, zu einem Vierteltonquerstand führt und diesen Tonikaeintritt als das Erscheinen einer völlig andern Welt fühlbar werden lässt. </p><p>Knapp nach dem Beginn der Scheinreprise (unmittelbar nach dem gerade erwähnten Tonikaeintritt) lässt Schubert die (dissonante) Septe eines Dominantseptakkordes unaufgelöst liegen und verändert stattdessen den Bass. Mozart hatte diese Methode noch als Musterbeispiel der Arbeiten schlechter Komponisten verspottet (Musikalischer Spaß, 1. Satz, Takt 12/139).</p><p>Die Frage, wie ich diese ungewöhnliche Satzweise heute unmittelbar verständlich machen kann, habe ich im „<em>Torso</em>“ durch eine Instrumentalfarbe zu lösen versucht: Ich wollte nicht die Dissonanz quasi mit einem Rufzeichen versehen, sondern die Unheimlichkeit dieser Passage durch die Instrumentation unmittelbar fühlbar machen, als Melodie der Bassklarinette im tiefsten Register.</p><p>Eine besonders krasse Gestaltung des Verzichts auf Dissonanzauflösung findet sich in der Coda des ersten Satzes. In Takt 396 der Klaviersonate lässt Schubert die None (!) des Dominantseptnonakkordes unverändert stehen und zur Quinte der Subdominantparallele werden. </p><p>Erstaunlicherweise findet sich in beiden Fällen der Verweigerung einer Dissonanzauflösung der selbe Ton als nicht aufgelöste Dissonanz, ein a. Dieser Ton a spielt auch im Hauptthema des ersten Satzes die zentrale Rolle.</p><p>Parallel zu dieser strukturellen Begründung der irregulären Dissonanzbehandlung bietet sich noch eine zweite Erklärung an. In beiden Fällen sind diese Dissonanzen in Ausschnitte von Obertonakkorden eingebettet, die demonstrativ als Konsonanz behandelt werden.</p><p>Die Obertonreihe und deren mathematische Ableitung und Begründung wurde 1822 durch Fourier veröffentlicht (eingeschoben in eine Arbeit über die Wärmelehre, die in Paris veröffentlicht wurde). Diese Thesen wurden vielfach diskutiert, und es ist durchaus wahrscheinlich, dass sie auch 1825 im Kreis Schuberts besprochen wurden.</p><p>Schubert hat in diesem ersten Satz seiner Sonate die musikalischen Konsequenzen der Fourierschen Entdeckung des Obertonakkordes gefunden:<br />1. die verlängerte Dauer dieser Akkorde (und auch der gesamten Sonate)<br />2. neuartige Akkordfolgen<br />3. fehlende Auflösungen</p><p>Dem Ton Fis kommt in dieser Sonate eine zentrale Rolle zu. Es ist jener Ton, der weitest möglich von ihrer Tonart C-Dur entfernt ist, es ist der letzte Ton des Menuetts und der Grundton des die Durchführung des ersten Satzes beherrschenden Klanges. (Auch im Seitenthema des ersten Satzes ist dieser Ton markant wahrnehmbar.)</p><p>Schubert hat – wie dem Manuskript ersichtlich ist, in Takt 15/16 gezögert, gestrichen. An dieser Stelle tritt erstmals der Ton ges, die enharmonische Verwechslung von fis, auf.</p><p>Am Ende des unvollendeten Finales ist fis ebenfalls enthalten (als Basston). Schubert schrieb Zeile für Zeile, fis ist daher der Basston des letzten Akkordes, den er in dieser Sonate geschrieben hat.</p><p>Diesen Ton fis habe ich als den Todeston der Sonate empfunden und ihn im „<em>Torso</em>“ (nicht schematisch, aber immer wieder an markanten Stellen) durch Oktaven im gedämpften Blech instrumentiert.</p><p>Im vierten Satz des „<em>Torso</em>“ griff ich ein einziges Mal in die Zeitstruktur des Werkes ein:</p><p>Der Lauf in Takt 89 wurde perpetuiert, das darübergesetzte Motto „hoffnungslos sinkender“ ist einem Text Rellstabs entnommen, den Schubert vertonte („In der Ferne“). Aus dem markanten kurzen Klavierlauf ist eine Endlosspirale geworden.</p><p>Das Hauptthema des ersten Satzes ist in diesem vierten Satz immer wieder latent vorhanden. Schubert fügt es diminuiert als Ornament in einer Variante des Seitenthemas ein – eine Technik, die er den Fugen des späten Beethoven übernommen hat, die hier aber eher Brahms vorwegnimmt. Auch im Bereich des Hauptthemas des vierten Satzes drängt sich dieses Thema als Kontrapunkt geradezu auf.</p><p>Die Gestaltung des Seitenthemas dieses Satzes bereitete mir zunächst Probleme, ich hatte Schwierigkeiten, den richtigen Klang zu finden. Was ich wusste, war, dass an jenen Stellen, an denen die Diminuition des Anfangsthemas des ersten Satzes erscheint, der volle Orchesterklang gewissermaßen „dreinfahren“ sollte.</p><p>Ich schrieb diesen Teil des „<em>Torso</em>“ Anfang 2002 in Berlin, als Gast des DAAD. Die Verbindung mit dem Geschehen in Österreich beschränkte sich im Wesentlichen auf allabendliche Fernesehsendungen. In diesen Tagen geschah etwas in diesem Land, das mich mit Entsetzen und Betroffenheit anfüllte, die Wiederkehr von etwas, was ich längst überwunden geglaubt hatte. Und ich sah die Gesichter jener PolitikerInnen einer einstmals christlichliberalen Partei, denen anzusehen war, wie genau sie wussten, mit wem und womit sie kollaborierten. Ich sah sie vor mir, die Gesichter einer Frau Gehrer und eines Herrn Khol in diesen Phasen der Entscheidung, beklommen, aschfahl, wissend, was sie tun und trotzdem unerbittlich vorwärts drängend, egal, was immer da kommen sollte.</p><p>Und plötzlich wusste ich, wie diese Stelle zu instrumentieren war: aschfahl. Harfe, Akkordeon, Pauke. Fahl wie diese Gesichter. Auch Schubert hat diese Art von Gesichtern gekannt.</p><p>In den Takten 132/133 (in Schuberts Finale der Sonate) stockt der Puls dieses Seitenthemas, die Akkorde drehen sich um das e. Die Stelle steht in G-Dur, das e übernimmt also jene tonale Position, die das a im ersten Satz hatte: Das Hauptthema des ersten Satzes ist auch hier latent präsent.</p><p>In der Wiederholung habe ich dann dieses Hauptthema als Kontrapunkt in den Streichern in höchster Lage gesetzt, auch als Reminiszenz an meine Instrumentation des Trios des 3.Satzes, hier allerdings in wesentlich rascherem Tempo, als „Zeitraffer“ der Zusatzstimme zum Trio.</p><p>Am Ende des Fragments gibt es noch einmal ein Hoffen, noch einmal ein Drängen, als würde etwas Neues, Anderes entstehen können, aber dann erklingt der „Todeston“ fis in den Trompeten und Posaunen. Das Anfangsthema des vierten Satzes erscheint noch einmal in den Flöten und es bleibt nur mehr das leere Pulsieren der Zeit.</p><p>Diese Analyse meiner eigenen Arbeit ist unvollständig. Ich habe lediglich versucht, an Hand einiger markanter Stellen die Prinzipien meines “<em>Torso</em>“ darzustellen.</p><p>„<em>Torso</em>“ entstand 2000 im Auftrag der Bregenzer Festspiele, als Mittelteil einer langfristigen Zusammenarbeit mit dem Intendanten Alfred Wopmann, der nicht nur dieses Stück, sondern auch die beiden Opern „Nacht“ (1998) und „die Pferde und die Ratten und die Lerche“ (2003) ermöglicht hat.</p><p><em>Georg Friedrich Haas, Wien, 5.1.2003.</em><br /></p>